Wandernd hatte ich mit schon häufig Weitsicht erobert. Die Auseinandersetzung mit dieser Fähigkeit führte mich zunächst auf den ein oder anderen Irrweg.
Weitsicht oder auch Weitblick bezeichnet im übertragenen Sinn das vorausschauende
Verhalten einer Person. Diese lebt nicht nur im Hier und Jetzt, sondern macht sich die
Auswirkungen ihres Handelns klar.
Der Archäogenetiker Johannes Krause und der Journalist Thomas Trappe schreiben im
Bestseller „Hybris.: Die Reise der Menschheit zwischen Aufbruch und Scheitern“ , dass dem
Menschen genetisch der Hang zum Konsum, zur Unterwerfung anderer und zur Expansion
eingeschrieben sei. Überall wohin der Homo sapiens sich zu neuen Jagdgründen aufmachte, verschwand die Großfauna in erdgeschichtlich kurzer Zeit. So scheint es, dass der Mensch nicht mit Weitsicht handelt, sondern meist die kurzfristige Bedürfnisbefriedigung vorzieht. In ihrem Schlusswort hoffen die Autoren inständig, dass spätere Menschen vor der Kulturleistung der Rettung der Welt heute genauso staunen werden, wie wir vor den ersten Höhlenmalereien.
Mit Weitblick und Weitsicht handeln zu können, erfordert eine gewisse Selbsterkenntnis und
manches Mal auch eine Selbstbeschränkung.
Für mehr Weitsicht im Leben rate ich da, magische Orte mit Weitblick zu besuchen. Schöne Orte mit Weitblick sind leicht zu finden. Die Fähigkeit der Weitsicht im Menschen? Können wir sie trainieren?
Zum Beispiel bietet Würzburg mit seinen vielen Hügeln großartige Blicke ins Weite.
Vom Marienberg, auf dem die Festung der Fürstbischöfe liegt, hat man den besten Blick auf
die Stadt und sieht die gewachsenen Strukturen, wie z. B., dass der Ringpark
sich wie eine Bischofsmütze um die Altstadt legt.
Vom Aussichtsturm des Verschönerungsvereins auf dem Nikolausberg sieht man alle
umliegenden Mittelgebirge: Steigerwald, Spessart, Rhön, Hassberge und ein wenig das Tal
des Maindreiecks.
Keinesfalls zu vergessen: der Hügel mit der berühmten Weinlage Stein im Norden gleich
hinter dem Bahnhof.
Der Blaue Hügel ist der Schuttberg der Universität Würzburg, die seit 1965 aus der Stadt im
Kessel des Maintals hoch auf den Hügel des Hublands gezogen ist. Der Hügel ist in ständiger
Wandlung, weil noch immer weiter gebaut, erweitert und Erde bewegt wird. Wilde
Bewachsung hat sich angesiedelt und Menschen und Tiere haben einen kleinen
Pfad getrampelt. Hier sehe ich manchmal Rehe. Es ist ein verwegener Pfad durch das Dickicht, abseits des gern genommenen Weges ins nächst gelegene Weindorf Randersacker. Mancher Baum gibt Singvögeln einen Platz, im Frühsommer blühen und
duften Heckenrosen, im Herbst können Schlehen gesammelt werden. Die ein oder andere
Zecke liegt auf der Lauer.
Oben angekommen, ist der Weitblick sogar für alteingesessene Würzburger und
Würzburgerinnen neu und überraschend. Dort leite ich dann zu einer Übung an, die jederzeit
an einem anderen Ort mit Weitblick wiederholt werden kann.
Stell dich an einem Ort, an dem du in die Ferne schauen kannst, ein paar Momente
ruhig hin. Bestimme erst im Hier und Jetzt den Ausgangspunkt. Gut ist, wenn du alle
Sinneswahrnehmungen immer mit der gleichen Formel beginnst. Du kannst die Sätze
denken oder, wenn du alleine bist, laut aussprechen: „Hier und jetzt sehe ich …; hier
und jetzt höre ich …; hier und jetzt rieche ich…; hier und jetzt spüre ich…“
Schließe dann einen Moment die Augen und schaue nach innen, was du dir für dich in
nicht allzu weiter Zukunft wünscht, was du brauchst.
Wenn du die Augen wieder öffnest, schau, welches Objekt du siehst, wohin du deinen
Wunsch projizieren kannst. Was du siehst, wird passen.
Du kannst dir überlegen, was dieses Objekt dir für eine Botschaft gibt, was das mit
deinem Wunsch oder deinen Bedürfnissen zu tun hat.
Manch einfache, aber gute Erkenntnisse haben mir Teilnehmerinnen berichtet: Die
Windräder erinnerten daran, nachhaltiger mit der Energie umzugehen; Weinberge
luden dazu ein, mehr Genuss zuzulassen; der schief gewachsene Baum sagte der
Person, dass sie in Ordnung ist, wie sie ist; eine heranziehende Wolkenfront
führte zu der Erkenntnis, dass es besser wäre, sich ins gemütliche Heim
zurückzuziehen; ein Berg in der Ferne erinnerte an das geplante Training, um wieder
Berge zu besteigen.
Schließe dann noch einmal kurz die Augen und atme ein paar Mal ruhig und tief.
Wenn du magst, lege eine Hand aufs Herz und verankere deinen Wunsch mit dem
Objekt, dass du gesehen hast in dir.
So kann der Blick nach innen und der Blick in die Ferne uns erst einmal ein kurzes Innehalten,
eine achtsame Pause verschaffen und der Weitblick uns in der umsichtigen Umsetzung
unserer Bedürfnisse unterstützen.
So in etwa ist der Artikel im Lavendelo "Weitsicht", März 2022 erschienen. Das Lavendelo gibt es auch am Kiosk. www.lavendelo.de

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