Gran Canaria … Diese Insel war für mich nie eine Trauminsel, ganz anders als La Gomera oder La Palma. Doch für viele andere war und ist die Inselwelt im Atlantischen Ozean vor der afrikanischen Küste ein Traumort. Für mich war Gran Canaria zunächst nur Symbol für Massentourismus. Ja, Gran Canaria ist besiedelt, mit Straßen und Industriezonen überzogen, die Infrastruktur für den Tourismus ist hoch. Ja, die Insel ist in bestimmten Bereichen zu verbaut, zu voll, zu hässlich. Und dennoch ist Gran Canaria auch wild und magisch. Das Inselzentrum ist von Vulkanausbrüchen, Wind und Wetter gestaltet. Tiefe Schluchten ziehen sich von dort zur Küste. Manchmal noch immer nicht befahrbar, lässt sich die Inselmitte auf alten gepflasterten Pfaden erwandern. Diese „Camino Reales“ hatten die Spanier angelegt, als sie – trauriges Erbe – die Insel erobert hatten und die Altkanarier aus unterschiedlichen Gründen als Ethnie verschwunden waren. Die bis ins 14. Jahrhundert steinzeitlich lebenden Altkanarier waren den Waffen der Spanier unterlegen. Ermordung, Verschleppung als Sklaven, Krankheiten, die sie nicht überleben konnten, waren Gründe, warum im Laufe des 15. Jahrhunderts bis zu 95% der altkanarischen Bevölkerung verschwunden war. Der Rest passte sich den neuen (Herrschafts-)Strukturen an.
Pfeifen statt reden
Die Altkanarier pflegten keinen Kontakt zwischen den einzelnen Inseln. Jede Insel besaß eine eigene Sprache. Gemeinsam war ihnen die Verständigung mittels einer Pfeifsprache, El Silbo. Diese Pfeiftöne sind über große Distanzen gut zu hören. Wenn die Luftlinie zur nächsten Alm oder Besiedlung kürzer ist als die schweißtreibende Durchquerung eines tiefen Tales, ist es einsichtig, sich auf diese Weise zu verständigen. So war eine schnelle und sichere Kommunikation gewährleistet. Angepasst an die Laute der spanischen Sprache existiert die Pfeifsprache noch immer und kann heutzutage in Kursen gelernt werden. Auf La Gomera ist sie sogar Unterrichtsfach an Schulen.
Kultorte mit Magie
Die Kultorte der Altkanarier auf Gran Canaria sind atemberaubend schön. Allen voran der Wolkenfels, der Roque Nublo. Ein Fels, der wie ein Mönch aussieht, flankiert diesen Tafelberg am Aufstieg. Ein Tafelberg ist ein Berg mit einer weiten Gipfelebene. Der spanische Begriff für Tisch oder Tafel, Mesa, wird auch verwendet. Der Roque Nublo hat eine beeindruckende Lavadecke auf seinem „Tisch“. Am Ende der Ebene liegen der „Wolkenfels“ und der „kleine Froschberg“. Von hier reicht der Blick nach Süden bis zu den berühmten Dünen von Maspalomas, von wo aus Kolumbus in See stach. Im Osten sieht man den hoch aufragenden Teide auf Teneriffa. Dieser Vulkan mit seinen 3715 Meter grüßt wie ein großer Bruder herüber. Auf dem Roque Nublo ist man vermutlich nie allein, selbst, wenn es schon so spät ist, dass man die stundenlange Serpentinenfahrt in die Küstenorte nicht mehr im Hellen schafft. Der Wolkenfels gehört zu den Top Ten der Sightseeing Highlights. Ist er deswegen weniger magisch? Nein. Obwohl er „überlaufen“ ist, übt er eine starke Faszination aus. Als ich bei meinem zweiten Aufstieg neu kennengelernte Wanderfreunde hierher führte, steckte mich ihre Begeisterung und Freude aufs Neue an.
Um die Kraft der Natur zu spüren, bin ich gerne mal alleine. Ohne plaudern und ohne menschliche Stimmen im Hintergrund.
In Sichtweite neben dem Roque Nublo liegt der Roque Bentayga. Hier habe ich mich ganz alleine erlebt. Keine Menschenseele traf ich während des Aufstiegs, niemand störte die Ruhe während einer zwanzigminütigen Meditation, während des Picknicks und des Abstiegs. Dieses Schweigen um mich herum war von einem ganz besonderem Zauber erfüllt.
Für mich sind solche Orte magisch und Kraft spendend, von denen ich weiß, dass vor mir schon jahrhundertelang Menschen diesen Ort besonders fanden. Dazu gehört der Roque Bentayga auf jeden Fall. Was für ein Blick von diesem kleinen Plateau in die Weite! Was für eine Hitze, die von diesen Felsen abstrahlte! Was für eine Angst, einen falschen Schritt zu machen! Die Felsen auf Gran Canaria sind längst nicht so penibel abgesichert wie in den deutschen Alpen; offensichtlich vertrauen die Verantwortlichen auf die Vernunft und Selbstverantwortung der Wanderer. Dieser Roque Bentayga ist ein Fels, der als Bergpyramide 600 Höhenmeter aus dem Tal empor ragt. Letztendlich ist die Wanderung nicht wirklich anstrengend, wenn man einigermaßen trittsicher ist, denn vom Parkplatz am Besucherzentrum müssen nur die letzten 200 Höhenmeter geschafft werden.
Am Opferplatz am Sockel des Berges finden sich in den Fels geschlagene Rillen, Ritzen und Löcher. In einer dieser Kerben soll am 22. September das Licht bei Sonnenaufgang aufsteigen - eine Art Kalender also. In manchen Rillen soll geopferte Milch gelaufen sein. Die katholischen Eroberer interpretierten den Kult als Verehrung der Sonne.
Diese Orte, vor allem aber die Wanderungen in der Inselmitte haben meinen Blick auf Gran Canaria verändert. Es gibt dort Orte, die die Menschen schon seit Jahrhunderten berührten und die auch auf uns heute noch wirken. Menschen brauchen Orte, die sie daran erinnern, dass es etwas Höheres gibt. Für mich birgt die Natur viele Heiligtümer, solche wie den Roque Bentayga. Entschleunigen, sich besinnen, zu sich kommen ...an einem Kraftort wird das erlebbar.
So in etwa ist der Artikel im Lavendelo "Netz", Juni 2020 erschienen. Das Lavendelo gibt es jetzt auch am Kiosk. www.lavendelo.de
Comments